Grober Blick auf kleine Wunder.

Worauf richtet sich der Blick?

Ich erleben es oft so, dass der Physik die größte Aufmerksamkeit gewidmet wird, wenn es um die kleinsten Teile der kleinsten Teilchen geht oder wenn der Blick in den Weltraum schweift. Mein Blick geht in eine Welt, die viel zu klein ist, um sie mit dem bloßen Auge zu sehen. Sie ist aber unmittelbar erlebbar, denn in vielen Alltagsgegenstände finden wir sie wieder: Ich untersuche Polymere. Ganz grob gesagt, sind das chemische Stoffe, die aus wirklich vielen, sich wiederholenden Gruppen von Atomen bestehen.

blurry city lights at night
nur bunte Punkte, oder eine typische Stadt bei Nacht? (CC0) by Free-Photos@pixabay

»Wenn man nicht genau hinschaut, sieht man manchmal mehr.«

Ich habe das Gefühl, ich habe mir diese Weisheit selbst ausgedacht, aber sicher haben viele große Denker schon ganz ähnliche Gedanken geäußert.

Warum muss man nicht so genau hinsehen?

Wenn man Atome zu sehr, sehr langen Ketten verbindet, wird ab einer gewissen Länge die genaue Anordnung der Atome nicht mehr so wichtig. Eine sehr vereinfachte Analogie: Man kann aus ganz verschiedener Wolle eine Mütze machen, egal welche Farbe oder Feinheit die Wolle hat, man wird sie als Mütze, mit ganz allgemeinen Eigenschaften, erkennen. Bei Polymeren besteht die “Wolle” aus einer langen Kette der Grundbausteine, den Monomeren, die sich zum großen Teil aus beliebig komplizierten Verbindungen von Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff zusammensetzen. Doch das maßgebliche Merkmal ist, eine lange Kette zusein. Das bringt ganz bestimmte Eigenschaften mit sich, die man allgemein untersuchen kann.

colorful wool artwork
So stelle ich mir Polymere vor: Ein bunter Haufen langer Wollfäden (CC0) by Alicja@pixabay

Warum ist das wichtig?

Polymere treten in unserem Alltag mittlerweile überall auf. So bestehen Kunststoffe, also Verpackungen, Gebrauchsgegenstände oder auch viele Bauteile fast ausschließlich aus Plastik, eine der verarbeiteten Formen von Polymeren. Auch Autoreifen und Schuhsolen bestehen aus Polymeren in Form von Gummi. Soviel zu den von Menschen benutzten Werkstoffen. Schauen wir in die Natur, finden wir ebenfalls viele Polymere. Das prominenteste Beispiel ist die DNA im Zellkern, aber auch die Filamente der Stützstruktur innerhalb der Zellen ist aus Polymeren aufgebaut. Und erwähnt seien noch unsere Energieträger, sowohl Erdöl für alle möglichen Formen der Verbrennung als auch die Stärke für unsere biologische Energiegewinnung sind Polymere.

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DNA Moleküle künstlerisch dargestellt (CC0) by Arek Socha

Die Vielfalt konkrete chemische Struktur all dieser Polymere ist unüberschaubar groß. Wirklich groß. Die Anzahl aller Sandkörner auf der ganzen Welt ist verschwindend klein dagegen. Das ist typisch für die organische Chemie. Und das macht es natürlich schwer, diese Stoffe zu untersuchen, weil bereits kleine Änderungen in den Grundbausteinen deren chemische Eigenschaften stark beeinflussen. Aber, wir haben ja sehr, sehr viele dieser Bausteine, typischerweise 10 000 bis 100 000, weswegen die Eigenschaften des Stoffes eher die einer langen Kette sind, als die des Grundbausteines. Die zentrale Frage des vergröberten Ansatzes ist nun: Wie genau muss man hinsehen und wie viel muss man weglassen um trotz dieser Vereinfachung möglichst viel über den Stoff zu  lernen. Solche Sachen macht ein Polymerphysiker, sowas mache ich.

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viele Atome bilden eine lange Kette künstlerisch dargestellt (CC0) by zeeshan ahmad@pixabay

Systematische Ansätze für vergröberte Polymermodelle

Themenwechsel. Es gibt in der großen Werkzeugkiste der Physik eine häufig verwendete Methode, bei der man einen komplizierten Prozess auf ein Gitter reduziert. In der Thermodynamik ist das Gittergas eine sehr einfache Möglichkeit Gase und Flüssigkeiten zu untersuchen, für Ferromagneten und verwandte Systeme ist das Ising Model ein häufig benutztes und vielseitig erweitertes Model. Diese Art der Vereinfachung macht die analytische Berechnung von interessanten Phänomenen wie Phasenübergänge möglich und sie legt die Grundlage für effiziente Computersimulationen.

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Man kann auch Kunst mit Gittern machen (CC0) by Arek Socha@pixabay

Wie bringt man jetzt das Konzept Gittermodel mit Polymeren zusammen? Für alle, die gern mit Stift und Papier rechnen und schon mal etwas von Entropie gehört haben, sei die Flory-Huggins Theorie ans Herz gelegt. Mit deren Ergebnissen kann man einfache Modelle für Polymermischungen aufstellen, auch ich komme da nicht so richtig herum. Aber eigentlich kommt bei mir erst richtig Freude auf, wenn es darum geht den Computer die Arbeit machen zu lassen.

Schieben wir Würfel übers Gitter!

Mein Lieblings-Gitterpolymer Simulationsmodel und das Hauptwerkzeug meiner Doktorarbeit ist das Bindungs-Fluktuations-Model. In diesem Model werden Polymere als Würfel auf einen einfachen kubischen Gitter dargestellt. Diese Würfel können mit einer vorgegebene Auswahl an Vektoren verbunden werden.

Schema Bindungs-Fluktuations Model
So sehen Polymere im Bindungs-Fluktuations Model aus: Würfel auf einem Gitter

Um nun mit dem Bindungs-Fluktuations etwas über Polymere zu lernen, verwendet man die Monte Carlo Methode. Dabei wählt man zufällig einen Würfel aus, wählt dazu eine zufällige Richtung entlang der Gitterachsen und tut so, als ob das Monomer um eine Gittereinheit in diese Richtung verschoben wird. Jetzt wird überprüft, ob sich Bindungsvektoren verändert haben und es sich noch um erlaubt Bindungsvektoren handelt. Außerdem prüft man, ob der Würfel an der neuen Position mit einem anderen Würfel überlappt. Ist alles in Ordnung, wird die Bewegung akzeptiert, tritt ein Konflikt auf, wird die Bewegung abgeleht. Danach wählt man sich wieder zufällig einen Würfel und eine Richtung aus und wiederholt das ganze. Sehr oft.

rolling dices
Zufallszahlen würfeln bei der Monte Carlo Methode (CC0) by 955169@pixabay

Man kann ganz unterschiedliche zusätzliche Kriterien einführen, die darüber entscheiden, ob eine Bewegung zugelassen wird oder nicht. Wir haben in meiner Arbeitsgruppe dafür ein Programm mit dem schönen Namen LeMonADE geschrieben, das auch öffentlich zugänglich ist. Hier ein paar Zeilen (C++) Code um auf den Geschmack zu kommen 😉

TaskManager taskmanager;
taskmanager.addUpdater(new UpdaterSimpleSimulator<Ing,MoveLocalSc>(myIngredients,save_interval));
taskmanager.run(max_mcs/save_interval);

Und warum macht man das??

Hat man alles genug bewegt, kann man sich die Position aller Monomere merken und damit verschiedene Eigenschaften seines Polymeres ausrechnen, wie etwa den Abstand zwischen Kettenenden oder den Abstand zwischen den Zentren zweier Polymere. Dadurch kann man die Eigenschaften dieser “verallgemeinerten” oder “vergröberten” Polymere für ganz unterschiedliche Zustände ausrechnen und einen guten Schätzwert für diese Eigenschaft im allgemeinen bekommen. Zum Beispiel ist es wichtig zu wissen, wie viel Platz ein Polymer mit einer bestimmten Anzahl von Monomeren, also in unserem Falle Würfeln, braucht. Mit diesem Wissen kann man die chemische Reaktion, mit der man ein Polymer herstellt, auf die entsprechende Anwendung anpassen. Ganz konkret: Für dünne Folien braucht man sehr lange, nicht verzweigte Ketten, für Autoreifen braucht man vergleichsweise kurze, miteinander verknüpfte Ketten. Sowas lernt man dabei.

Vorderräder von Fahrrädern
Ein guter Platz für Hochleistungskunstoffe: Fahradreifen (CC0) by Hans@pixabay

Und wenn es gut läuft, nutzt man dieses Wissen, um bessere Fahrräder mit unplattbaren Reifen zu bauen, mit denen wir alle umweltschonend und sportlich unsere täglichen Wege erledigen und schöne Touren fahren können.


Martin Wengenmayr

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